Fehler im Artikel "Rüpeleien unter Klimaforschern" von Axel Bojanowski


Offener Brief an den Chefredakteur von Spiegel Online
Potsdam, den 1. August 2006

Sehr geehrter Herr Müller von Blumencron,

als mit der Materie beruflich gut vertrauter Wissenschaftler muss ich Sie auf eine bemerkenswerte Reihe von faktischen Falschaussagen in dem am Freitag bei Spiegel Online erschienenen Artikel "Rüpeleien unter Klimaforschern" von Axel Bojanowski hinweisen. Ich überlasse es Ihrem Urteilsvermögen, ob es sich dabei einfach um Irrtümer handelt.

Der gravierendste Fehler zieht sich durch den ganzen Artikel. Bojanowski behauptet, einige Klimaforscher (insbesondere der amerikanische Kollege Mike Mann, aber auch der UN-Klimarat IPCC) seien von der angesehenen National Academy of Sciences (NAS) scharf kritisiert worden. Das Gegenteil ist der Fall: der Bericht der NAS, der Ende Juni auch durch die deutschen Medien ging, unterstützt die Aussagen von Mann und IPCC und nimmt sie gegen unberechtigte, teils politisch motivierte Angriffe in Schutz. Siehe auch den korrekten Bericht der New York Times ("Science Panel Backs Study on Warming Climate").

Beim Lesen von Spiegel Online reibt man sich ungläubig die Augen angesichts zahlreicher gegenteiliger NAS-Zitate. Diese stammen jedoch gar nicht von der NAS, sondern aus einem vom republikanischen "Hardliner" (Spiegel Online) Joe Barton bestellten Gegenbericht von Edward Wegman. Dies hat mit Wissenschaft gar nichts zu tun, sondern mit US-amerikanischer Innenpolitik. Der Wegman-Bericht wurde nicht fachlich begutachtet, es steht keine seriöse wissenschaftliche Organisation dahinter, und er ist jedem halbwegs informierten Leser leicht erkennbar als ein reines Gefälligkeitsgutachten für den der Ölindustrie nahe stehenden Barton. An sich hätte ich vom Spiegel erwartet, eher solche Zusammenhänge aufzudecken, als mit Falschaussagen hervorragende unabhängige Wissenschaftler wie Mike Mann zu diskreditieren. Hier ist eine Richtigstellung durch Spiegel Online erforderlich.

Der Artikel von Bojanowski enthält jedoch noch zahlreiche weitere Fehler.

Bojanowski schreibt:

Joe Barton, der Vorsitzende des Energieausschusses im Repräsentantenhaus, [...] hatte die Arbeit Manns von zwei Gremien prüfen lassen: in den Augen vieler Wissenschaftler ein schikanöses Vorgehen. Doch die Gutachter waren renommierte Klimaforscher und Statistiker der National Academy of Sciences (NAS).

Der Leser muss hier den Eindruck gewinnen, viele Wissenschaftler hätten (zu ihrem Miskredit) die Prüfung durch die NAS als schikanös empfunden. Das Gegenteil ist der Fall: die NAS-Untersuchung wurde von den Klimaforschern (auch von den betroffenen Kollegen) ausdrücklich gewünscht und begrüßt. Eine Reihe von wissenschaftlichen Organisationen (u.a. die NAS, die American Association for the Advancement of Science und die European Geosciences Union) hatten das ursprüngliche und tatsächlich schikanöse Vorgehen von Joe Barton scharf zurückgewiesen und stattdessen eine neutrale und seriöse Untersuchung durch die NAS gefordert. Diese Untersuchung durch ein NAS-panel wurde dann in Auftrag gegeben vom House Science Committee Chair Sherwood Boehlert, der selbst Barton wegen "Einschüchterung von Wissenschaftlern" scharf kritisiert hatte. (Ich habe seinerzeit den Vorgang mit einem Kollegen kommentiert. Dort sind auch die links zu den o.g. Stellungnahmen.)

Das Washingtoner Hearing, von dem Bojanowski nun berichtet, ist eine Gegenveranstaltung von Barton, der mit dem Ergebnis der Begutachtung durch die NAS (die Mike Mann voll rehabilitiert) erwartungsgemäß nicht glücklich war. Bojanowski berichtet, als sei er vor Ort gewesen ("Es war ganz still im Saal des Repräsentantenhauses, als ..."); tatsächlich war ihm offenbar nicht einmal klar, über welche Veranstaltung er hier schreibt.

Kurz darauf heißt es:

die Hockeyschläger-Grafik ist in dem IPCC-Report ganz vorn abgebildet. Verantwortlich für die prominente Platzierung der Kurve war ihr Urheber selbst - Michael Mann war leitender Autor des Reports.

Dies ist falsch: allein verantwortlich für die Platzierung von Grafiken in der Summary for Policymakers (auf die sich die Aussage "ganz vorn" bezieht) sind die Autoren dieser Summary for Policymakers, zu denen Mike Mann nicht gehörte (wohl aber Ulrich Cubasch). Ich kann aus eigener Erfahrung (am betroffenen IPCC-Bericht war ich nicht beteiligt, wohl aber an dem neuen, der kommendes Jahr erscheint) sagen, dass man als Autor eines der Kapitel keinen Einfluss darauf hat, welche Grafik in den Summary for Policymakers aufgenommen wird, auch wenn man das manchmal gerne hätte.

Weiter heißt es:

Auch der nächste IPCC- Bericht, der im Frühjahr 2007 erscheint, leide unter der Dominanz bestimmter Forschergruppen, sagte der IPCC-Autor Ulrich Cubasch von der Freien Universität Berlin zu SPIEGEL ONLINE.

Dies ist insofern eine interessante Aussage, als Cubasch selbst bei den Berichten von 1995, 2001 und 2007 als lead author beteiligt war bzw. ist. Dagegen sind die Autoren des Kapitels 6 des nächsten IPCC-Berichts, das sich mit dem "hockey stick" Thema befasst, alle erstmalig dabei, nur einer von ihnen arbeitet selbst im Bereich Rekonstruktion des Klimas des letzten Millenniums (K. Briffa), und keiner von ihnen kann einer früheren engeren Zusammenarbeit mit Mike Mann "verdächtigt" werden. Wenn Bojanowski bzw. Cubasch hier eine Art "Klüngel" insinuieren, der eine wirklich unabhängige Begutachtung verhindert, ist dies völlig abwegig.

Doch im engen Zirkel der Paläoklimatologen, die das Klima der Vergangenheit erforschen, würden die Arbeiten Michael Manns mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem Schreibtisch eines guten Bekannten landen - er habe mit 42 Kollegen zusammen Studien verfasst und bilde mit ihnen "eine Clique", mahnt jetzt die Prüfkommission.

Wohlgemerkt, nicht die NAS sondern der Wegman-Bericht.
Das Argument für eine angebliche "eingeschworene Gruppe", nämlich dass Mike Mann mit 42 Kollegen gemeinsame Arbeiten publiziert hat, zeugt lediglich von Unkenntnis des Wissenschaftsbetriebs. Ähnliches trifft wohl auf jeden international erfolgreichen Forscher zu (bei mir sind es 57). Selbst die strengen Begutachtungskriterien für Institute der Leibniz-Gemeinschaft (zu der unser Institut gehört) lassen gemeinsame Publikationen nicht als Grund für den Ausschluss von Gutachtern gelten, weil sich sonst praktisch keine Gutachter finden würden, und weil gemeinsame Publikationen kein Indiz für eine Befangenheit darstellen (häufig erfordern solche Publikationen nur einige Email-Kontakte zur Abstimmung; auch ich habe mehrere Forscher, mit denen ich gemeinsam publiziert habe, noch nie persönlich getroffen).

In direktem Anschluss:

Einige aus der Gruppe betreuen die Internetplattform "Realclimate.org", die über Klimaforschung berichtet. Dazu gehört auch der deutsche Wissenschaftler Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, von dem sich die Bundesregierung in Sachen Umweltschutz beraten lässt.

Ich werde hier der "eingeschworenen Gruppe" von 42 Kollegen zugeschlagen, die mit Mike Mann gemeinsam Studien verfasst haben. Auch dies ist falsch: ich habe niemals mit Mike Mann gemeinsam eine wissenschaftliche Arbeit publiziert. Dies wäre auch verwunderlich, da ich gar nicht in seinem Forschungsgebiet arbeite (also dem Klima des abgelaufenen Jahrtausends). Ich habe Herrn Mann lediglich zwei oder drei mal auf einer Konferenz getroffen. Korrekt ist, dass ich gemeinsam mit 10 anderen international renommierten Forschern (u.a. Mike Mann) Artikel für die Internetseite Realclimate.org schreibe.

Nun soll Realclimate diskreditiert werden:

Manche Umweltverbände und Medien nutzten "Realclimate.org" bislang als objektive wissenschaftliche Quelle, obgleich die Beiträge meist in eigener Sache verfasst sind.

Hier kann ich nur jedem einen Blick auf die Website empfehlen, die einen Preis von Scientific American gewonnen hat und vor kurzem von der Fachzeitschrift Nature als weltweit drittbeste Wissenschaftssite vorgestellt wurde. Korrekt ist, dass wir gelegentlich Mike Mann über das Thema "hockey stick" haben schreiben lassen; diese Kommentare sind von ihm unterzeichnet und damit erkennbar in eigener Sache. (Nur für Eingeweihte erkennbar ist dagegen, dass Bojanowski bei seinem kaum zum Thema des Artikels passenden Seitenhieb gegen mich "in eigener Sache" agiert - habe ich doch schon in der Vergangenheit mehrfach sachliche Fehler von Bojanowski bei Redaktionen beanstandet.)

In der Regel vermeiden wir es jedoch auf Realclimate, Kommentare von direkt Betroffenen zu publizieren. Ein detaillierter kritischer Kommentar zu den im Fachmagazin Science enthüllten Fehlern in einer "hockey stick"-Publikation deutscher Kollegen etwa wurde deshalb von uns unter explizitem Ausschluss von Mike Mann geschrieben. Wir sind für sachliche, ausgewogene und unbestechliche Analysen bekannt und geschätzt - die Besucherzahl der Site übersteigt bereits 1,5 Millionen, und Al Gore hat sich öffentlich als regelmäßiger Leser bekannt. Kritische Kommentare stoßen bei den Betroffenen natürlich nicht immer auf Begeisterung. Es ist wohl kein Zufall, dass die damals kritisierten Kollegen nun die Hauptquelle von Herrn Bojanowski's Artikel waren.

Kürzlich war dort zu lesen, das "Hockeyteam" - gemeint waren die Unterstützer Michael Manns - sei mit "2:0" in Führung gegangen.

Im Oktober 2005 ("kürzlich") haben wir tatsächlich so eine flapsige Bemerkung gemacht: Das "hockey team" ist aber nicht irgendeine Unterstützergruppe von Mike Mann, sondern ein Bündel von Datenkurven, erstellt von konkurrierenden Forschergruppen. Wir definierten es so:

[...] it is what is perhaps more aptly termed the "Hockey Team"--that is, the multiple independent reconstructions and model simulations that now indicate essentially the same pattern of hemispheric mean temperature variation in past centuries, that support a "Hockey Stick" description of past temperature changes.

Es ist peinlich, wie hier durch ein begriffliches Misverständnis (?) die Vorstellung einer "eingeschworenen Gruppe" belegt werden soll.

Der zweite Teil von Bojanowski's Artikel befasst sich im Wesentlichen mit den Klagen einiger Kollegen, deren Studien bei der Begutachtung durch internationale Fachzeitschriften durchgefallen sind:

Viele Klimaforscher sind überzeugt, dass es sich bei jenem Kontrolleur um Michael Mann handelt. Sie werfen ihm vor, Redakteure von Fachzeitschriften massiv eingeschüchtert zu haben. Von "Türstehermethoden" spricht etwa der Klimatologe Hans von Storch vom GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht

Unverständlich bleibt bei dieser These, wieso und wie Redakteure von Fachzeitschriften sich durch ein negatives oder scharf formuliertes Gutachten eines Wissenschaftlers "einschüchtern" lassen sollten. Die Redakteure sind frei in ihrer Entscheidung, und die Wissenschaftler verfügen über keinerlei Druckmittel. Wenn ein Redakteur ein negatives Gutachten in der Sache nicht überzeugend findet, wird er die Studie dennoch abdrucken. Es werden ohnehin immer mindestens zwei Gutachter zu Rate gezogen. Gerade auch in der genannten Fachzeitschrift Geophysical Research Letters sind eine ganze Reihe Mann-kritischer Artikel publiziert worden.

Als neueste Opfer der Fachmagazine sehen sich die profilierten deutschen Klimatologen Gerd Bürger und Ulrich Cubasch von der Freien Universität Berlin, deren Kritik an der Hockeyschläger-Kurve zunächst von den angesehenen "Geophysical Research Letters" (GRL) abgelehnt wurde. Die Kritik des anonymen GRL-Gutachters wäre "unter der Gürtellinie" gewesen, sagte Cubasch. Nun erschien die Arbeit in der weniger gewichtigen Online-Zeitschrift "Climate of the Past", wo Studien nicht abgelehnt werden, sondern die Kritiken anderer Forscher vielmehr einsehbar sind - unter anderem der ungewöhnlich böse Verriss eines anonymen Autors, von dem viele meinen, es handele sich um Mann.

Wenn Forscher gegenüber den Medien darüber spekulieren, wer der anonyme Gutachter einer Fachzeitschrift war, dann ist damit ein von mir in meiner wissenschaftlichen Laufbahn noch nie erlebter Tiefpunkt der wissenschaftlichen Kultur erreicht - zumal wenn sie sich dann selbst hinter der Phrase "viele meinen" verstecken. Der von Spiegel Online zitierte "Verriss" ist zwar tatsächlich im Ton unangemessen. Man sollte jedoch zur Kenntnis nehmen, dass ein zweiter anonymer Gutachter (ebenfalls auf der Website von Climate of the Past einsehbar) in der Sache ebenso kritisch ist und wegen "numerous errors and inaccuracies in the use of statistical concepts and methods" die Ablehnung der Studie von Bürger und Cubasch empfiehlt. Die normale Reaktion von Wissenschaftlern auf Kritik der Fachgutachter ist es, die eigene Studie zu verbessern, und nicht, über die Medien die Fachzeitschriften und deren Gutachter zu beschimpfen. Es ist schon erstaunlich, dass Herr Bojanowski sich offenbar ohne jede kritische journalistische Distanz die Klagen einiger verprellter Wissenschaftler zu eigen macht.

Summa summarum hat Herr Bojanowski in seinem Artikel versucht, das Bild einer eingeschworenen Clique von Klimaforschern zu entwerfen, die mit rüden Methoden kritische Artikel unterdrücken. Er stützt sich dabei erstens auf den nur als bizarre Blüte der inner-amerikanischen Politik verständlichen Bericht von Wegman, den er fälschlich als Gutachten der renommierten National Academy of Sciences ausgibt - das NAS-Gutachten kommt jedoch genau zum gegenteiligen Schluss. Zweitens benutzt er eine ganze Serie von erfundenen und leicht widerlegbaren Behauptungen, um seine abwegige These zu stützen. Drittens gibt er kritiklos die peinlichen Klagen einiger Kollegen wieder, deren Arbeiten wegen methodischer Mängel von internationalen Fachzeitschriften abgelehnt wurden. Mit seriösem Journalismus hat dies aus meiner Sicht nichts zu tun. Ob es sich lediglich um eine erstaunliche Serie grober Fehler, oder aber um gezielte Desinformation handelt, möchte ich Ihrer Einschätzung überlassen.

Mit freundlichen Grüßen,

Prof. Stefan Rahmstorf

p.s. In der Folge schreibt der einschlägig bekannte Journalist Dirk Maxeiner über den Bojanowski-Artikel:

Auch die Methoden des deutschen Klima-Propagandisten Stefan Rahmstorf werden kurz gewürdigt.

Hier soll ich geschickt mit einer vagen Andeutung ("Methoden") diskreditiert werden - nur wenn man bei Bojanowski nachliest, merkt man, dass selbst ihm zu meinen "Methoden" nicht mehr kritisches eingefallen ist, als dass ich für die preisgekrönte Internetseite Realclimate.org schreibe und die Bundesregierung berate (als Mitglied des WBGU). Wie Bojanowski holzt auch Maxeiner hier übrigens in eigener Sache, da ich in einem 2004 erschienenen Buch einen besonders krassen Fall einer Maxeiner-Falschmeldung dokumentiert habe.